Wie Gaarden hoch 10 scheitert: Eine kritische Analyse
Von Thilo Pfennig
Einleitung
Diese Analyse beruht auf meinen 24 Jahren Erfahrungen als Einwohner von Gaarden (wohne seit 2000 in Gaarden, vorher in anderen Stadtteilen, Österreich und Bayern) und meiner Beschäftigung mit Stadtentwicklung, New Urbanism und dem Werk der Architekturkritikerin Jane Jacobs seit den frühen 1990er Jahren. Und ist auch ein Ergebnis aus zahlreichen Gesprächen und Situationen. Andere Lebenswirklichkeiten führen sicher zu anderen Wahrnehmungen oder Perspektiven. Aber nach vielen Jahren Beobachtung von Gaarden hoch 10 war es mir wichtig, meine Sichtweise zu teilen und damit vielleicht auch einige Impulse zu geben.
Bilanz
Gaarden hoch 10 wurde im September 2018 von der Kieler Ratsversammlung für den Kieler Stadtteil Gaarden beschlossen. Auf 10 Jahre angelegt war 2023 sozusagen Halbzeit. Dieser Text ist eine Analyse von Schwächen, die in grundlegenden Texten und den Fortschrittsberichten deutlich werden.
Website: Entwicklungs-Strategie Gaarden10 - https://www.kiel.de/de/kiel_zukunft/stadtteile/gaarden.php
Im Fortschrittsbericht 2019 heißt es:
Die Landeshauptstadt Kiel hat sich mit Gaarden10 (sprich: Gaarden hoch 10) das Ziel gesetzt, die Bemühungen in und für Gaarden zu bündeln und noch einmal mehr Anstrengungen zu unternehmen, um Probleme aufzugreifen und Potenziale aufzuzeigen.
und:
Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, wie wichtig es ist, die Bemühungen um diesen Stadtteil nicht abbrechen zu lassen, sondern im Gegenteil noch einmal mehr Anstrengungen zu unternehmen. Die Landeshauptstadt Kiel will mit dem folgenden Entwicklungskonzept Probleme aufgreifen und Potenziale aufzeigen. Dabei ist das Konzept Gaarden 10 und das Wirksamwerden all seiner Bestandteile etwa auf die nächsten 10 Jahre ausgelegt.
Die Strategie basiert auf Vorschlägen der Verwaltung, die bei Rundgängen und in Workshops erarbeitet wurden, auf Anregungen aus einer Bürgerbeteiligung sowie auf Beschlussergänzungen der politischen Selbstverwaltungsgremien, vom Ortsbeirat über die Fachausschüsse bis zur Ratsversammlung.
Was ist nun Gaarden^10? Die Texte reden immer von Konzept und manchmal von Strategie. Wenn man es genau betrachtet ist es aber keins von beiden. Hier zwei Definitionen:
- Ein Konzept ist ein übergeordnetes gedankliches Modell oder eine Idee, die beschreibt, wie ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Es dient als Grundlage oder Rahmen für die Planung und Umsetzung.
- Eine Strategie ist ein detaillierter, langfristiger Plan, der beschreibt, wie bestimmte Ziele erreicht werden sollen. Sie berücksichtigt spezifische Maßnahmen und deren zeitliche, ressourcliche und organisatorische Umsetzung.
Das Defizit liegt vor allem bei den Zielen. Es gibt keine strategische Zielsetzung. Es gibt keine langfristigen und quantifizierbaren Ziele. Ein weiteres Defizit liegt in der fehlenden Ursachenforschung. Es bleibt bei einer reinen Faktenfeststellung und Symptombetrachtung. Warum sind Dinge in Gaarden so wie sie sind? Dies wird gar nicht untersucht. Im Grunde ist der richtige Begriff eher Maßnahmenkatalog. Es wird von einem Werkzeugkasten gesprochen und von über 250 Projektideen. Diese sind aber überhaupt nicht miteinander verbunden.
Im Fortschrittsbericht 2022 steht zB:
Am 31.12.2021 hatte der Stadtteil Gaarden Ost mit 18.728 Einwohner*innen genauso viele wie Mitte 2018. In den Jahren vor 2018 war noch eine Bevölkerungszunahme zu verzeichnen. An der Fluktuation hat sich wenig geändert: 2018 zogen 6.658 Personen um, im Jahr 2020 waren es 6.516 Personen. Der Anteil der Umziehenden an der Gesamtbevölkerung in Gaarden Ost ist damit unvergleichlich hoch. Gut 1/3 der gesamten Bevölkerung in Gaarden zieht innerhalb eines Jahres um.
Und warum ist das so? Was sind die Hauptgründe für einen Umzug? Man kann verschiedene Ursachen vermuten. Könnte es daran liegen, dass oft Menschen aus Osteuropa mit befristetem Aufenthaltsstatus und Arbeitsverträgen in Gaarden wohnen? Auch Die Qualität der Wohnungen ist niedrig und es gibt natürlich auch viele öffentliche Faktoren, die Leute, die bessere Arbeit oder Wohnungen finden dazu bewegen, wegzuziehen. Es wäre auch möglich, das der hohe Anteil an Studierenden ebenfalls zu einer hohen Fluktuation beiträgt. Es hätte Aufgabe eines Konzeptes für Gaarden hoch 10 sein müssen, Ursachen zu untersuchen und daraus zB auch das Ziel abzuleiten, dass die Fluktuation im Viertel verringert wird!
Eine Wirkung von hoher Fluktuation sind zB schneller steigende Mieten. Denn der Vermieter kann bei jeder Neuvermietung die Miete drastisch erhöhen. Diese kurz- und langfristigen Auswirkungen werden ebenfalls nicht betrachtet.
Zur Gewerbestruktur findet man folgendes:
Aufgrund der niedrigen Kaufkraft im Stadtteil hat sich auch das Einzelhandelszentrum der spezifischen Nachfrage angepasst. Höherwertige Waren und Geschäfte sind immer mehr verschwunden. Das Gaardener Einkaufszentrum ist zwar nach wie vor eines der größten Kiels, jedoch zeigt sich, dass es noch viel Entwicklungspotenzial hat.
Es wird nicht analysiert, warum es viele Leerstände gibt. Die zahlreichen Spielhallen werden nicht kritisiert. Es besteht zB im Bebauungsplan ein Ansiedlungsverbot, das aber nicht durchgesetzt. So haben sich nach diesem neuen Bebauungsplan zB eine Backstube in einen Wettladen umgewandelt. Man findet nichts über die Entwicklung der Höhe der Gewerbemieten. Wie können auch in Zukunft attraktivere Gewerbeflächen angeboten werden und sich die Ladenstruktur verbessern?
Es fehlen auch klare Ziele wie zB „Bis 2030 soll der Anteil leerstehender Gewerbeflächen in der Elisabethstraße um 30 % reduziert werden.“.
Dann wurden auch Anmietungen durchgeführt:
Der Kirchenweg wurde in die Strategie Gaarden10 aufgenommen, da Bemühungen zur Aufwertung durch private Eigentümer*innen unterstützt werden sollten. Bis dato konnten drei Gewerbeeinheiten seitens der Stadt angemietet und weiter untervermietet werden: eine Eventmanagerin, eine Kalligrafin und eine Künstlerin haben dort ein neues Zuhause gefunden. Zum 01.10.2020 werden zwei weitere Einheiten in direkter Umgebung der ersten drei angemietet und einer neuen Nutzung zugeführt. Zu den beiden Einheiten gehört auch eine Hinterhofsituation mit einem kleinen Hinterhaus, zwei Garagen und einem Schuppen.
Eine Belebung hat dadurch aber nicht stattgefunden. Darauf wird im Bericht gar nicht eingegangen.
- Unzweifelhaft gibt es einen Mangel an bezahlbaren Atelierräumen in Kiel. Dies hat das Programm verringert.
- Für die Häuser, wie zB in der Elisabethstraße die Ateliergemeinschaft Casablanca sind sicher ein Segen, weil die Künstler*innen viel Arbeit reinstecken, um zu renovieren, aufzuräumen, sich um Probleme wie Heizung und Wasserrohrbrüche kümmern.
- Aber eine Belebung findet durch Ateliers nie statt, weil das eigentlich Räume sind, wo Menschen im Stillen als Rückzugsraum arbeiten!
Unter Belebung würde ich Räume verstehen, die öffentlich sind und nach außen und zB zum Kirchenweg hin kommunizieren. Das ist weder die Aufgabe dieser Mieter*innen und sie werden von der Stadt instrumentalisiert und müssen sich dann dort um viele Dinge kümmern außerhalb ihrer künstlerischen Tätigkeit, für die sie nicht bezahlt werden. Ich bin also nicht unbedingt gegen eine Vermietung, aber wenn das Ziel eine Belebung war, so müsste man das definieren. Welche Art Belebung stellt man sich vor und wie soll diese stattfinden? Ich weiß auch gar nicht, ob der Begriff oder das Ziel richtig sind. Denn viele wünschen sich auch mehr Ruhe auf der Straße.
Ich vermute, dass man sich eine Signalwirkung versprach und dass es eher darum ging, dass Mieter*innen mit höherer Kaufkraft Wohnungen und Gewerbeflächen mieten. Bzw. hätte man gerne eine „positive Gentrifizierung“. Wegen dieser teilweise offenen oder versteckten Ziele steht der Maßnahmenkatalog auch bei vielen Linken in Kiel im Fadenkreuz der Kritik.
Hier kommen wir auch beiläufig zur Kulturrotation. Vorrangiges Ziel ist es laut Texten nicht, Menschen aus anderen Stadtteilen in den Stadtteil zu holen, sondern primär den Stadtteil attraktiver zu machen und ein offenes Kulturangebot zu etablieren.
Ich interpretiere das so, dass die Zielsetzungen der Stadt Kiel da nur teilweise transparent sind. Aber auf jeden Fall hat sie ihre Ziele nicht erreicht. D.h. Gaarden heute ist weder durch die Kulturrotation noch durch die Ansiedlung von Ateliers gentrifiziert worden. Es findet keine Verdrängung durch Besserverdienende statt. Wobei wir ja hier auch eh an dem interessanten Punkt sind, dass Garden deutschlandweit als eines der negativen Beispiele dient, dass die Einkommen hier im Vergleich zu anderen Kieler Stadtteilen erheblich geringer sind (siehe NDR Bericht vom 6.5.2024 “Kiel und Neumünster: Arm und Reich leben getrennt”. Hohe Segregation führt in der Regel zu einer Konzentration von Problemen wie Armut, ungleichem Zugang zu Ressourcen, schlechteren Gesundheits- und Bildungsbedingungen sowie sozialer Isolation.
Aber wie reduziert man hohe Segregation ohne mögliche Verdrängung? Ich denke: Sehr schwierig. Dazu braucht es sehr gute und gezielte Strategien. Man kann die Effekte dann vermutlich nur dämpfen und nicht ganz verhindern.
In der Liste der Projekte geht es auch etwas durcheinander zwischen auf der einen Seite klar durch die Kommune finanzierte Projekte, aber auch Projekte von Investoren oder auch vom Land. Das meiste Geld hat im Posleitzahlbereich 24143/Gaarden wohl der Bereich der östlichen Hörn verschlungen (früher “Kai-City” genannt). URBAN I, URBAN II, es sind insgesamt mehrere hundert Millionen (oder gar Milliarden?) dort aus unterschiedlichen Quellen hereingeflossen. Und es dient oft für Außenstehende als der Beleg dafür, dass doch viel in Gaarden investiert wird. Also “Wir” sollen nicht meckern, es passiert doch was.
Ich wage hier aber mal die These, dass die Investitionen dort eher dazu führten, dass in Zentralgaarden weniger investiert wurde. Es gibt hier viele Wege und Infrastrukturen, die nicht aktualisiert werden. Manche Pflasterstraßen, die seit Jahrzehnte nicht mehr repariert wurden. Hinweise verschwinden in Schubladen. Zusagen auf Reparaturen werden nicht eingehalten. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass man in Gaarden nichts mehr reparieren und investieren möchte, außer die neue Stadtbahn oder mal Graffitientfernung, dem Abbau von Bushaltestellen oder der Versuch der Schließung der Stadtteilbücherei und von Katzheide. Man ist hier eigentlich als engagierte*r Bürger*in gefühlt immer nur dabei, Schlimmeres zu verhindern. Und wenn man etwas veranstalten oder verändern will, werden einem unzählige Hürden in den Weg gelegt. Es ist die große Ausnahme, wenn mal etwas durchgeht oder man auf Fragen an die Verwaltung auch eine Antwort bekommt.
Aktuell habe ich eine Anfrage bei fragdenstaat.de am laufen, was denn Kiel Marketing in Gaarden getan hat. Die Frage wurde nicht in der nötigen Frist beantwortet. Kiel Marketing ist nämlich durchaus in anderen Stadtteilen aktiv in verschiedenen Bereichen. Soviel ich aber weiß, passiert da in Gaarden nichts oder nur wenig. Und das hätte ich gerne schwarz auf weiss.
Fazit
Generell wäre in Konzept oder Strategien für Gaarden richtig. Dazu müsste eben auch kommen, wie man gewollte und ungewollte Entwicklungen fördert, bzw. verhindert. Gaarden hoch 10 ist aber genau das nicht. Es ergibt sich daraus kein großer Erkenntnisgewinn. Es scheint mehr wie der Versuch, verschiedene, meist positive Entwicklungen in einem zusammenzufassen. Dabei wird überhaupt keine Ursachenforschung betrieben. Und dann ist es primär eine Symptombekämpfung nach Law&Order-Manier. Also es wird zB weniger versucht den Drogenkonsum oder -handel einzuschränken. Es reicht schon, wenn man es schafft temporär Drogensüchtige zu vertreiben. Im Wesentlichen ändert man damit nichts. Es ist eher ein Kopf in den Sand stecken.
Ich sage gar nicht, dass das alles einfach ist. Im Gegenteil. Ein Konzept für Gaarden müsste teurer sein und mehr beinhaltet als nur einen oberflächlichen Maßnahmenkatalog. Wie schon oben beschrieben bräuchte es dabei eine effektive Ursachenforschung und daraus abgeleitet realistische Ziele und eine verbundene Strategie, bei der mehrere Elemente zusammenwirken und nicht so fragmentiert wie bisher. Ich denke, das würde beinhalten, dass man weniger Ziele aufnimmt, das man einige übergeordnete Ziele definiert und auch nur Maßnahmen ergreift, die diesen übergeordneten Zielen dienen. Es könnte auch bedeuten, dass man innerhalb der Stadt auch einwirkt, dass Maßnahmen, die kontraproduktiv wirken unterbleiben oder zurückgenommen werden.
Es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen in der Stadtplanung die Probleme von Gaarden nicht nur als temporäre Herausforderungen begreifen, sondern als tiefgreifende strukturelle Fragestellungen, die einer fundierten, langfristigen Strategie bedürfen.
Zum Autor
Thilo Pfennig ist Technical Writer und Linux-Administrator, sowie Mitbegründer der Kulturinitiative Gaarden. Seite 2016 führt er Jane’s Walks vor allem im Stadtteil Gaarden durch und verfolgt die Kieler Stadtpolitik kritisch, u.a. in seinem Blog KielKontrovers
URL des Textes: https://gaardening.de/notizen/250101-gaarden-hoch-zehn/